
Frau von Feyerabend, wie sind Sie erstmals auf Anaïs Nin gestoßen?
Durch einen alten, abgegriffenen Band ihrer Tagebücher auf einem Flohmarkt in Paris.
Ich war sofort gefesselt – nicht nur von ihrer Sprache, sondern von ihrer inneren
Zerrissenheit. Diese Frau hat sich seziert, analysiert, geliebt und gleichzeitig infrage
gestellt. Ich wusste sofort: Irgendwann schreibe ich über sie.
Ihr neuer Roman trägt den eindringlichen Titel »Liebesrausch« – was bedeutet
dieser Begriff für Sie und im Kontext von Anaïs Nins Leben?
»Liebesrausch« beschreibt für mich diesen Zustand, in dem Gefühl, Körper, Geist und
Fantasie miteinander verschmelzen – ohne Rücksicht auf Konventionen oder
Konsequenzen. Anaïs Nin hat genau so geliebt: intensiv, suchend, oft widersprüchlich. Für sie war Liebe nie nur Romantik, sondern ein Akt der Selbsterkenntnis, ein schöpferischer Rauschzustand. Der Titel fasst dieses Lebensgefühl zusammen – zwischen Ekstase und Kontrollverlust, zwischen Inspiration und Selbstzerstörung. Schreiben und Lieben waren für sie Strategien gegen das Vergehen der Zeit, gegen Stillstand, gegen Tod.
Anaïs Nin war Schriftstellerin, Tagebuchautorin, Muse – was hat Sie an ihr besonders fasziniert?
Ihre Widersprüchlichkeit. Sie war mutig und selbstbestimmt, zugleich abhängig von der Anerkennung anderer. Sie lebte offen ihre Sexualität, führte aber ein Doppelleben. Diese Spannungen sind literarisch ungeheuer reizvoll – und auch sehr menschlich.
Der Roman spielt im Paris der 1930er Jahre – ein Ort der Freiheit, aber auch der moralischen Grenzen. Wie haben Sie diese Atmosphäre eingefangen?
Ich habe mich intensiv mit der Zeit beschäftigt, aber vor allem mit der inneren Welt Anaïs Nins. Paris war der perfekte Resonanzraum für ihren Rausch nach Leben. Der kulturelle Aufbruch, das Nebeneinander von Intellektualität und Exzess, das hat sie gespiegelt – und ich wollte, dass man das in jeder Szene spürt. Henry Miller war dazu eine perfekte Ergänzung, da er die ungezügelte Leidenschaft auslebte und Anaïs mit seiner Welt, zwischen Prostituierten und seinem Streben, als Künstler Anerkennung zu finden, vertraut machte.
Im Zentrum des Romans steht die leidenschaftliche Beziehung zwischen Anaïs Nin und Henry Miller. Was war Ihnen wichtig, dabei zu erzählen?
Dass diese Beziehung nicht nur körperlich war, sondern geistig explosiv. Beide haben sich gegenseitig entfesselt, literarisch und emotional. Und trotzdem war es eine destruktive Verbindung – auch das wollte ich zeigen: Wie Liebe zur Obsession wird, wenn zwei Menschen sich in ihren Extremen begegnen. Anaïs war keine naive Geliebte. Sie war eine Mitgestalterin dieses Exzesses und träumte davon, seine Muse zu sein.
Henry Miller war nicht nur Anaïs Nins Liebhaber, sondern auch ihr literarischer Gegenspieler. Was hat sie an ihm angezogen?
Sie hat in ihm eine Kraft gespürt, die sie selbst lange unterdrückt hatte – eine kompromisslose Lust am Leben, eine Wildheit, die sie gleichzeitig abgestoßen und angezogen hat. Er war vulgär, ehrlich, manchmal brutal. Und genau das hat sie fasziniert: Er lebte ungefiltert. Sie wollte ihn verstehen, ihn formen – und sich durch ihn selbst entdecken.
Inwiefern war Henry Miller für Anaïs Nin auch literarisch wichtig?
Er hat sie zur Klarheit gezwungen. Anaïs schrieb oft blumig, traumartig. Henry forderte von ihr Direktheit, Konfrontation. Sie hat sich dagegen gewehrt, aber letztlich hat sie sich weiterentwickelt – nicht nur durch seine Kritik, sondern durch die Reibung mit ihm. Er war für sie eine Art Spiegel ihrer unbewussten Seite.
Anaïs Nin lebte gleichzeitig in einer bürgerlichen Ehe mit Hugo. Wie haben Sie diesen emotionalen Spagat literarisch umgesetzt?
Ich habe bewusst auch Hugos Perspektive angedeutet – als Kontrast zu Anaïs’ fiebrigem Innenleben. Diese Gleichzeitigkeit von Konvention und Grenzüberschreitung war für sie essenziell, aber auch schmerzhaft. Nur durch ihre Tagebücher konnte sie das überhaupt verarbeiten.
Erotik spielt eine große Rolle in Ihrem Buch. Wie gelingt es, über Sexualität zu schreiben, ohne ins Klischee abzurutschen?
Indem man ehrlich bleibt. Anaïs schrieb über Lust als Ausdruck von Identität, nicht als Pose. Ich habe versucht, ihre Perspektive einzunehmen – voller Neugier, Zweifel, Genuss. Erotik ist bei ihr immer auch Sprache, ein Akt des Erkennens.
Inwiefern ist Anaïs Nins Geschichte auch heute noch relevant – gerade für junge Frauen?
Weil sie zeigt, wie komplex Freiheit sein kann. Heute sprechen wir viel über Selbstverwirklichung, über offene Beziehungen, über Identität. Aber was das emotional bedeutet, bleibt oft unter der Oberfläche. Anaïs hat diese Komplexität gelebt. Sie war ihrer Zeit voraus – und ist auch unserer noch immer ein Stück voraus.
Viele sehen in Anaïs Nin eine Vorreiterin feministischer Literatur. Würden Sie das auch so sehen?
Ja, aber mit einem entscheidenden Zusatz: Sie war keine politische Feministin im klassischen Sinn. Ihr Kampf war ein stiller, persönlicher – gegen die inneren und äußeren Schranken, gegen Scham, gegen das Schweigen über weibliches Begehren. Sie hat sich selbst zum Subjekt ihrer Lust gemacht. Und das war revolutionär.
Der Roman stellt auch immer wieder die Frage nach Wahrheit und Täuschung. Wie gehen Sie damit als Autorin um?
Ich glaube, jede Biografie – ob dokumentarisch oder literarisch – ist immer auch eine Interpretation. Bei Anaïs Nin war Lüge ein Überlebensmechanismus. Sie hat nicht nur andere, sondern auch sich selbst getäuscht. Mein Anspruch war es nicht, sie zu entlarven, sondern die Schichten ihrer Wahrheiten sichtbar zu machen.
Frau von Feyerabend, in Ihrem Roman Liebesrausch ist die Psychoanalyse nicht nur ein Thema – sie durchdringt das ganze Innenleben der Protagonistin. Welche Rolle spielte die Psychoanalyse im Leben von Anaïs Nin?
Eine fundamentale. Für Anaïs war die Psychoanalyse nicht bloß eine Therapieform, sondern eine Lebensweise. Sie hat sich buchstäblich durchs Schreiben analysiert. Ihre Tagebücher sind keine reinen Chroniken, sondern tiefenpsychologische Expeditionen ins eigene Ich. Sie wollte sich selbst verstehen, sezieren, neu zusammensetzen – und dazu diente ihr die Psychoanalyse als Werkzeug.
War sie damit ihrer Zeit voraus?
Absolut. Heute reden wir viel über Selbstoptimierung, innere Zerrissenheit, emotionale Komplexität – Anaïs hat das alles schon in den 1930er-Jahren durchlebt und literarisch umgesetzt. Sie war eine Pionierin der Innerlichkeit. Und sie hatte den Mut, das Unbewusste nicht als etwas Dunkles zu fürchten, sondern als Schatz zu bergen.
Eine Figur, die vielen weniger bekannt ist, aber in Ihrem Roman eine wichtige Rolle spielt, ist Otto Rank. Wer war er für Anaïs Nin?
Rank war für Anaïs Nin eine Offenbarung. Er war Schüler von Freud, aber seine Sicht auf die Psyche war viel lebensbejahender. Für Anaïs war er Therapeut, Mentor, intellektuelles Gegenüber – und eine Art Vaterfigur. Sie projizierte sehr viel auf ihn, suchte in ihm Halt, aber auch eine Art Erlösung von ihrer inneren Zerrissenheit.
Gab es zwischen den beiden eine erotische Spannung, oder war es eine rein geistige Verbindung?
Es war beides – wie so oft bei Anaïs. Sie hat in vielen Beziehungen alle Ebenen miteinander vermischt: Intellekt, Körper, Gefühl. Mit Rank war die Beziehung weniger leidenschaftlich als mit Miller, aber sie fühlte sich wahrscheinlich besser verstanden. Er war für sie eine Art innerer Kompass. Sie wollte von ihm erkannt werden – mehr als begehrt.
Was hoffen Sie, dass Leser:innen aus Liebesrausch mitnehmen?
Vielleicht den Mut, sich selbst ernst zu nehmen. Die eigenen Sehnsüchte nicht zu verurteilen. Und die Erkenntnis, dass das Leben oft kein Entweder-oder ist, sondern ein Dazwischen – chaotisch, widersprüchlich, aber eben auch lebendig.
Interview © Verlagsgruppe Droemer Knaur

Charlotte von Feyerabend
LIEBESRAUSCH
Verlag: Droemer Knaur
Veröffentlichung: 01.09.2025
ISBN: 978-3426467275
Preis: 19,00 €
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