Samstag 27. Dezember 2025

Mit Herz und Faust: Der Ganze Rest über Wahrheit, Wut und ihr neues Album „hübsch.“

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Mit hübsch. veröffentlicht das Stuttgarter Punk-Quartett Der Ganze Rest sein viertes Studioalbum – roh, ehrlich und unverblümt. Das Album behandelt Themen wie Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt, Umweltzerstörung und psychische Gesundheit. Dabei bleibt die Band ihrer Linie treu: aggressiv, emotional, direkt, aber immer mit einem Augenzwinkern.

Musikalisch bewegen sich Der Ganze Rest zwischen Melodic-Hardcore-Punkrock, Pop-Punk, punktuellem Sprechgesang, gutturalen Peaks und harmonischen Backings. Drei Gastauftritte erweitern die Klangwelt des Albums, während komplexe Bass-Linien, präzise Schlagzeug-Passagen und eingängige Gitarrenriffs die Songs tragen.

hübsch. fordert die Zuhörenden auf, genau hinzuhören, nachzudenken und sich in den Songtexten wiederzufinden – und gleichzeitig mitzusingen, mitzufühlen und sich emotional zu öffnen.

„hübsch.“ behandelt sehr ehrliche und kontroverse Themen. Wie habt ihr entschieden, welche Inhalte in die Songs einfließen?

Maxim: Wir haben da eigentlich gar nichts „entschieden“ – das passiert. Ich schreibe Demos, manchmal schon mit Text.

Martin: Felix und ich hören die Demos und schreiben dann den Text, der uns gerade berührt oder dazu passt – Themen, die uns bewegen. Abgesprochen ist das selten bis nie. Wir merken nur: „Da wollen wir was sagen.“ 

Euer Sound ist rau und aggressiv, aber gleichzeitig emotional und vielschichtig. Wie schafft ihr es, diese Balance zu halten?

Martin: Fangen wir früher an: Wie entstehen die Demos? Maxim macht eine Demo – aber das heißt nicht, dass der Gesang später dieselbe Stimmung trägt. Manchmal hab ich einfach Lust zu schreien, und dann kippt ein Song – wie etwa bei „subreal.“ oder bei „phosphor.“.

Denny: Gerade „subreal.“ – ich bin nachts aufgewacht und wusste, ich muss die Idee aufnehmen. Häufig denke ich mir auch: „ob das genau so war, wie Maxim sich das vorgestellt hat?“. Keine Ahnung – aber die Songs verändern sich ja auch noch immer.

Maxim: Genau daraus ergibt sich die Balance. Die Musik setzt eine Farbe, die Stimme kann das kontern oder verstärken.

Felix: Und wir sagen nie: „Acht schnelle Punk-Songs, jetzt brauchen wir noch was Ruhiges.“ Da ist kein Konzept, das passiert halt.

Martin: Wir produzieren viel mehr Demos als am Ende auf dem Album sind und wählen dann aus, was wir haben wollen. 

Die Texte des Albums sind oft metaphorisch, knapp an der Grenze zur verbalen Faust ins Gesicht. Wie geht ihr damit um, dass manche Hörer:innen diese Direktheit vielleicht als Provokation empfinden?

Martin: Ich liebe diese Frage. Denn das ist genau das Ziel. Seid provoziert davon. Wenn es euch provoziert, dann habe ich den richtigen Nerv getroffen.

Felix: Die, die denken „das ist gewagt“ aber die Message gut finden, sind nicht gemeint. Denn sie wissen, worum es geht. Wer sich aber negativ angesprochen fühlt …

Martin: Also wer denkt: „Ich will doch nur das Beste fürs Land, deshalb wähle ich die AfD.“ – dann bist du ein Arschloch. Punkt. Genau, das ist die Aussage, die der Text haben soll.

Felix: Oder bei „schmutz.“: Privilegien hinterfragen.

Martin: Schau, welche Privilegien du hast, wer sie nicht hat – und ob andere sie haben sollten. 

Musikalisch zeigt jeder Song eine andere Facette eurer Band. Wie entwickelt ihr die Vielfalt, ohne dass das Album seinen roten Faden verliert?

Maxim: Vielfalt entsteht zuerst, weil ich privat sehr viel unterschiedliche Musik höre – das fließt alles ein. Und ja: Den roten Faden haben wir diesmal aktiv gesucht; beim letzten Album fehlte er etwas.

Martin: Bei „Incendium“ war quasi „alles, was wir machen wollen“ auf einem Album – dadurch wurde es viel.

Denny: Vielfalt kommt auch, weil wir sie zulassen: Felix gestaltet seine Drums mit, ich meinen Bass. Jeder bringt seine Farbe ein.

Martin: Wir kommen aus Rock, Metal, Punkrock, Pop-Punk – das mischt sich zu unserem Stil. Am Anfang dieser Produktion haben wir beschlossen, stringenter zu sein. Nach der Songauswahl setzen wir uns hin und überlegen die Reihenfolge, damit das als Album konsistent wirkt. 

Drei Gastauftritte bereichern „hübsch.“ dramaturgisch. Wie wählt ihr Gäste aus und wie beeinflussen sie das Songwriting?

Martin: Maxim und ich haben Demos aufgenommen und oft war sofort klar: „Da passt diese Stimme.“ Bei „geister.“ dachten wir direkt an Paramore und Nelli (Petrikor) hat genau die Stimmfarbe, die wir wollten. Bei Nico (White Sparrows) war’s diese besondere Stimme, die wir haben wollten, und dasselbe bei Dave Collide. Die Texte kommen von uns; die Gäste haben Kleinigkeiten verändert: Phrasierung, Aussprache, Rhythmus – damit es sie sind.

Felix: Die Freiheit war auf jeden Fall gegeben: Wenn textlich was nicht passt, ändert man es.

Martin: Und bei den Aufnahmen haben die Features handwerklich mit Hand angelegt – Harmonien, Backing Vocals und so weiter. 

Themen wie Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt und psychische Gesundheit sind gesellschaftlich brisant. Welche Verantwortung fühlt ihr euch als Band, diese Inhalte zu transportieren?

Martin: Wir waren noch nie anders. Wir haben schon immer Sorgen und Themen, die uns beschäftigen, verarbeitet. „Brisant“ finde ich es nicht – diese Themen sind wichtig, darum sollte man darüber reden und es in Musik verarbeiten. Es gibt keinen besseren Weg, als das emotional zugänglich zu machen.

Felix: Ich würde das mit der „Verantwortung“ etwas anders fassen: Es ist kein Auftrag, kein Zwang, wir sind nicht „verpflichtet“. Aber wir stehen auf einer Bühne, haben Reichweite – also ist es wichtig, darüber zu reden.

Martin: Für mich persönlich ist es Verantwortung. Egal welches Genre ich mache – ich kann nicht unpolitisch sein. Alles andere wäre zu wenig.

Felix: Einig sind wir uns darin, dass „Texte ohne Inhalt“ nichts für uns sind. Das ist dann wirklich Quatsch.

Martin (grinst): Wir haben trotzdem einen Biersong.

Denny: Und den „goldfisch.“!

Felix: Aber das ist halt lustig. 

Euer Gesang wechselt zwischen cleanen und screaming Passagen, unterstützt von Backings und Sing-alongs. Wie entwickelt ihr diese Dynamik live und im Studio?

Maxim (scherzhaft): Live gar nicht.

Martin (lacht): Uff – das stimmt so nicht. Wir haben viel umgestellt. Live singen alle vier – dadurch entsteht Dichte im Gesang.

Maxim: Bei den Demos probieren wir lange. Manchmal zwei, drei Stunden an einer Stelle, dann klappt’s nicht – also eine Woche später wieder ran. Wir haben viel daran gearbeitet, wie gesungen wird und wo was hinpasst.

Martin: Und im Studio haben wir dann Teile wieder verworfen und neu gemacht. Das Ganze war insgesamt ein langer Prozess: ungefähr ein halbes Jahr Demos aufnehmen, noch ein halbes Jahr proben. Zwischendurch Konzerte. Dann im Studio eine Woche reine Gesangsaufnahmen. Da steckt viel Zeit und viele Versuche drin. 

Sarkastische Selbstbefragungen stehen in euren Texten neben direkten Aussagen zu Liebe, Aktivismus oder Verlust. Wie arbeitet ihr an dieser Balance zwischen Selbstreflexion und Gesellschaftskritik?

Denny: Was heißt denn hier „Sarkastische Selbstaussage“?

Maxim: „goldfisch.“?

Felix: Das ist nicht sarkastisch, das ist echt!

Martin: Für mich ist Sarkasmus oft humoristisch übertriebene Selbstreflexion – das geht Hand in Hand. Und ja, das ist einer unserer geteilten Humore (neben schlechten Wortwitzen) … war das der richtige Plural? Am Ende schreiben wir Texte – mal lustig, mal ernst, mal traurig, mal fröhlich.

Felix: Das wird die grundlegende Aussage – Der Ganze Rest: „Wir denken nicht viel.“ 

Nach vier Alben – wie hat sich eure Herangehensweise an Songwriting, Produktion und Performance verändert, und was bedeutet „hübsch.“ für euch persönlich?

Martin: Wir machen seit Jahren zusammen Musik und wissen inzwischen, was wir wollen und nicht wollen. Und jenseits der Musik: Wir haben uns überlegt, wie wir nach außen stehen wollen. Nicht nur „Typen im T-Shirt“, sondern einheitlich, mit Bildsprache und Message. Das zieht sich ins Artwork, in die Postproduktion – alles soll ein Bild ergeben.

Maxim: Im Songwriting eigentlich überhaupt nichts, aber irgendwie doch. Wir wissen jetzt, was wir wollen.

Martin: Wir spielen das ein, was uns am besten gefällt und uns am besten repräsentiert.

Felix: Früher entstand manches noch im Studio, Texte waren am Aufnahmetag nicht fertig. Diesmal war das meiste geprobt, Texte zu 90 % da. Und ich hab mir ein neues Schlagzeug geholt, Denny hat sich einen neuen Bass gekauft, wir wollten auch am Sound schrauben.

Martin: „hübsch.“ ist in einem Zeitraum von drei Jahren entstanden, in dem wir uns aktiv mit dem Album auseinandergesetzt haben.

Felix: Bei diesem Album haben wir das Beste reingesteckt, das wir können. Kein „das passt schon so“, sondern „das passt jetzt so“.

Denny: Damit man ein Produkt hat, in dem wirklich Herzblut steckt.

Martin: Produziert haben wir im Kern selbst – Postproduktion/Bearbeitung lagen bei Maxim. Also das ist von uns, für uns. 

Welche Botschaft oder welches Gefühl möchtet ihr, dass Zuhörer:innen nach dem Hören von „hübsch.“ mitnehmen?

Felix: Wir schreiben das Album zuerst für uns. Ideal ist, wenn Leute es mögen, Ohrwürmer mitnehmen, sich in Texten wiederfinden, vielleicht etwas lernen. Hauptsache, am Ende bleibt etwas Positives.

Maxim: Ich hoffe, dass die Hörer:innen die positive Botschaft in den Songs mitnehmen, obwohl die Themen und Texte eher negativ sind und Probleme behandeln.

Felix: Es gibt viel Kritik und schwierige Themen, aber es steckt immer ein Funke Hoffnung drin und der Wunsch nach Verbundenheit.

Denny: Genau, dass man sich nicht allein fühlt.

Martin: Es gibt Künstler:innen, die genau das behandeln, das mich belastet. Genau das hoffe ich, dass sich jemand fühlt, der uns hört. Angenommen, wahrgenommen und erfüllt von Hoffnung. Negative Emotionen – Trauer und Wut – darf man zeigen. Das sind keine schlechten Emotionen. Durch sie verarbeiten wir, was uns belastet, finden Gemeinschaft und fühlen uns angenommen. 

Martin: Vielen Dank für die Interview-Anfrage, hoffentlich hattet ihr Spaß beim Lesen. 

Liebe Band Der Ganze Rest, herzlichen Dank für dieses ehrliche, offene und inspirierende Gespräch. Euer Mut, gesellschaftlich relevante Themen anzusprechen, verbunden mit eurer musikalischen Vielfalt und Energie, ist beeindruckend. Wir wünschen euch von Herzen alles Gute für die Zukunft, viel Erfolg und Freude mit „hübsch“. und dass eure Musik weiterhin Menschen bewegt, nachdenklich stimmt und verbindet. Interview by CK 

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