Samstag 5. April 2025

Interview mit Stefan Kaminski – 100 Tage, 7.000 Seiten, 1.500 Stimmen: Stefan Kaminski erschafft ein Hörbuch-Meisterwerk

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Teil 1: Vor den Studioaufnahmen 

Mit welchem Gefühl, mit welchen Erwartungen gehst du jetzt in die Aufnahmen zu „Das Lied von Eis und Feuer“? 

Ich gehe mit großen Gefühlen in diese Aufnahmen. Es gibt Dinge im Leben, die man erst erleben muss, um Begeisterung und Fantasie dafür zu entwickeln. Ich bin ein literarisch, musikalisch und filmisch interessierter Mensch. Ich hatte vor einigen Jahren begonnen, die ersten fünf, sechs Folgen der Serie „Game of Thrones“ zu gucken, kam aber überhaupt nicht gut in die Geschichte rein. Die ganzen Namen am Anfang, die Sprünge – davon kann man leicht überfordert sein. Ich habe mich gefragt, warum ich mich mit einem zusätzlichen Kontext befassen soll, der fiktiv ist und dieselben Muster aufgreift wie zum Beispiel die Geschichte der englischen Königshäuser. Ich interessiere mich für Geschichte, Intrigen und politische Ränkespiele. Was Fantasy betrifft, bin ich großer „Herr-der-Ringe“-Fan. Beides findet sich in „Das Lied von Eis und Feuer“ in Reinkultur wieder. Als ich die Anfrage erhalten habe, ob ich die Buchreihe einlesen möchte, habe ich erstmals die ganze Serie angesehen und mich parallel in den Text hineinbegeben. Und da hatte es mich. Ich finde großartig, wie George R. R. Martin komplexe Handlungsstränge, Drama, Witz und Tiefgang mit lebensnahen Figuren in die fiktive Welt von Westeros wirft. 

Ich gehe darum in diese Aufnahmen mit der Erwartung, eine emotionale und herausfordernde Reise zu erleben. Die Kapitel sind im Wechsel jeweils aus der Perspektive verschiedener Haupt-Figuren erzählt. Das ist spannend und beleuchtet das Geschehen von verschiedenen Seiten, führt in Tiefen und Untiefen der Charaktere. Darauf freue ich mich. Ich werde den hunderten Figuren auch Stimmen geben und ihre Wege begleiten. Durch eine Welt, die sich spannt von Eiseskälte und drohender Gefahr bis hin zu Orangenbaum-bestandenen sonnigen Buchten. Ich genieße die gruselige Erfrischung an der Mauer genauso wie das Wandeln über Orangenbaumblätter mit Aussicht über eine azurne See. Ich fühle mich hier mitten im Leben, obwohl es eine fiktive Welt in einer krassen Zuspitzung ist. Die Serie genieße ich, wenn ich sie auszugsweise zum zweiten Mal sehe, nach dem Genuss des Lesens doppelt. 

Ich finde, es ist ein großartiges Werk, das erzählt werden darf und das auch eine neue akustische Interpretation verdient. Ich freue mich auf alle, die mit mir gemeinsam hineintauchen. Es ist eine wunderschöne Aufgabe für mich und in meinem Berufsleben ein Geschenk. 

Auf welchen Charakter freust du dich jetzt vor der Aufnahme am meisten? 

Natürlich erstmal Tyrion, weil er besonders heraussticht. Diese Figur hat eine krasse Biografie, die sich innerhalb dieses Gerüsts von Familie, Politik und Intrigen sehr gewandt bewegt – und das mit dem Herz und auch dem Intellekt gleichzeitig auf der Zunge. Auf ihn freue ich mich darum zuallererst. 

Aber eigentlich sind mir die angstvollen und geschlagenen Hunde immer die Liebsten, wie zum Beispiel John Snow, Arya und Sansa. Auch Varys mit seiner üblen Kindheitsgeschichte. Er geht seinen Weg sehr einsam mit hohem Intellekt und zugleich Traurigkeit und Angst im Hintergrund, die er aber durch sein diplomatisches Geschick wettmacht. 

Ich könnte fortfahren, jede Figur ist für mich spannend, weil sie alle mit spitzer Feder gezeichnet sind. Das liebe ich schon jetzt. 

Hast du für die verschiedenen Personen auch verschiedene Stimmen entwickelt? 

Ja, ich mache das zunächst im Stillen: Ich lese den Text und mache mir meine Markierungen. Ich schreibe mir die Kürzel der Figuren daneben und nutze dabei etwas aus meinem Grundregister für Figurenfarben bei mir im Kopf. 

Zunächst mache mir eine Vorstellung der Figur und schreibe mir zwei, drei Charaktereigenschaften, das Alter oder ein Gebrechen hin. Damit habe ich eine grobe Richtung, aber die finale Stimme kommt erst im Tonstudio aus mir heraus. Das Gute ist, dass wir schon jetzt bei den Aufnahmen mit Patrick, dem Tontechniker und Inhaber des Tonstudios Auraton geplant haben, dass wir diese Figuren in Dateien festhalten, sodass ich, wenn in späteren Teilen diese oder jene wieder auftauchen, nochmal einhaken kann. Mir ist wichtig, nicht nur die Haltung gut zu treffen, sondern auch Stimmfarben, die sehr explizit von Seiten George R.R. Martins ausgeführt sind. 

Stark zu zeichnen, ohne zu karikieren, ist etwas, das mir besonders viel Spaß macht. Ich will wahrhaftig sein. Ich will die Figuren kauen und genießen. Am Ende bleiben sie erhalten, dank einer digitalen Aufnahme. Das ist spitzte. Wir sind viele. (lacht) 

Wie hast du dich denn auf die Aussprache der verschiedenen Namen und Orte vorbereitet? War das eine große Herausforderung für dich? 

Am Anfang schon! Ich habe im Vorfeld meiner Ernennung zum „Leselord“ natürlich ein Demo eingelesen. Es war ein Arya-Kapitel. Und da habe ich gedacht: Wer sind die alle? Namen und Orte, wie werden sie ausgesprochen? Das ist ja ein Riesenkosmos. Aber das ging sehr gut vorbereitet los und floss wie Wasser. War kein Thema. Ich bin froh, dass ich die Unterstützung von Verlag und Regie habe, die mir helfen, damit ich nicht ständig beim Lesen unterbrechen muss. Es gab Aussprache-Dateien und ein Glossar. Und ich muss sagen, im Fortlauf stellt sich mit den ganzen Namen ein virtuoser Umgang von selbst ein. 

Vorbereitung ist da ein gutes Stichwort. Hast du dich konditionell auf diesen Marathon im Studio vorbereitet? So viele Stunden des Lesens, des Sprechens. Hast du Proviant mitgenommen? Wie war dein Studioalltag? 

Das Besondere ist, dass ich nun zwischen Februar und November ein zusammenhängendes, sehr großes Projekt mache. Und dass dieser Kosmos auch auf meiner Nachttischkante liegen könnte, weil er mich persönlich sehr interessiert und reinzieht. Aber wenn ich alle Hörbuchproduktionen, die ich sonst so über das Jahr mache, zusammennehme, dann ist das ähnlich. Wie am Schnürchen, abzüglich der Ferien und ein paar Freiräumen, die ich mir bastle, um selbst kreativ zu sein. 

Natürlich sind die Produktionen immer fordernd. Wenn ich wie üblich vier Stunden lang lese, ist das einfach anstrengend. Das ist wie eine Bühnenshow. Volles Rohr! Wir haben mittlerweile einen Turnus von 80 Seiten am Tag gefunden. Das ist sehr viel für diese Art Konzentration. Es ist etwas anderes, wenn schon auf Seite 15 in einem Buch klar ist, welche Figuren sich bis Seite 347 durchziehen, als wenn man hier auf Seite 447 von einem neuen Kosmos überrascht wird, der sich über weitere zwei Teile spinnt, bevor er dann plötzlich abreißt und wieder ganz andere Dinge fokussiert werden. Darum ist es ein permanentes Auf-dem-Punkt-Sein. Ich habe mein Wasser danebenstehen und mache meine Päuschen nach zwei, drei Kapiteln. Die Aufnahmen sind ein virtuoser Spaß, nach dem ich schwitze und auch wirklich tiefenentleert nach Hause komme, wo ich dann den nächsten Teil vorbereite. 

Und im Übrigen freue ich mich auch, dass Lektorin Ana dabei ist, neben Regisseur Edgar und Tontechniker Patrick, der professionell die ganze Tongeschichte überwacht und mir die Aussprachen zuspielt. Die Drei sind wie mein Publikum. Und in den Pausen erhalte ich Feedback und gehe ermutigt weiter oder feile nochmal an etwas. 

Du hast gerade schon ein bisschen darüber gesprochen, dass es zwischen Serie und Büchern Unterschiede gibt. Hast du in Vorbereitung noch einmal die Serie angeschaut oder hast du dich eher auf die Bücher fokussiert? 

Ich habe im Vorfeld tatsächlich die Serie angeschaut. Mir ist dann im Nachhinein aufgefallen, nachdem ich die Bücher gelesen und zum zweiten Mal die Serie gesehen hatte, wie gut die ständigen Wechsel, also die Komplexität der Geschichte mit ihren vielen Sprünge filmisch umgesetzt wurden. 

Allerdings muss ich sagen, dass ich auch genug Stellen übersprungen habe, weil mit Frauen und Kindern fürchterlich umgegangen wird. Und ich habe später festgestellt, dass das im Buch teilweise überhaupt nicht so ist. Die Serie hat einige Szenen aufgeblasen, und ursprünglichen Romanfiguren wurden überformt. Ich hätte mir gewünscht, dass in dieser Hinsicht näher an der Buchvorlage geblieben worden wäre. 

Ich bin beim Einlesen der Bücher zum Fan geworden. Es ist schön, das alles frisch neu entdecken zu dürfen. Und ich freue mich sehr auf die beiden noch ausstehenden Bände. Es ist sicherlich schwer für den Autor George R.R. Martin, sich jetzt nach „Game of Thrones“ über das herbeigeschriebene Ende hinwegzusetzen und daran vorbei die eigene Version zu schreiben. Das soll er unbedingt tun. Und sich Zeit lassen, während er sich beeilt… Ich glaube, das wird sehr spannend werden. We’ll meet again. (lacht) 

Teil 2: In der Mitte der Studioaufnahmen 

Stichwort Halbzeit. Wie gestaltest du deine Pausen? Hast du da ein Ritual, mit dem du wieder runterkommen kannst zwischen Band 1, 2, 3 und 4? 

Mir sind meine Pausen extrem wichtig und es ist schwer, sie zu finden. Gerade wenn man ausgeleert aus dem Studio kommt und dann eigentlich weiterlesen muss, damit man die 840 Seiten weiterhin vorbereitet, denn nächste Woche startet der nächste Teil. Daneben gibt es Kind und Kegel, private Belange und den Wunsch, sich zu erholen. 

Es ist nicht immer leicht, aber möglich. Und ich genieße neuerdings – im Übrigen auch, seit ich Vater bin –, zwischen 15 und 17 Uhr den Zeitraum, in dem ich wegsinke und ein bisschen schlafe, etwas desolat erwache, aber mich dann noch mal kalt abbrause über den Kopf, damit ich den Abend genießen kann. Und dann freue ich mich auch, wenn ich abends zum Einschlafen noch ein paar Seiten lese. Früh morgens vor dem Aufstehen vielleicht auch noch mal ein paar Zeilen. Es hat auch einen Erholungseffekt für mich, die Zeit zu haben, weiter vorzubereiten. Was ich vermisse, das liegt aber an meinem Berufsbild: Dass ich kaum dazu komme, ein eigenes Buch in die Hand zu nehmen. Umso schöner, dass „Das Lied von Eis und Feuer“ etwas ist, was durchaus auf meiner Nachttischkante liegen könnte, wenn ich es nicht professionell einlesen dürfte. 

Hat sich denn für dich im Laufe der Aufnahmen irgendwas verändert? Hat etwas mehr Spaß gemacht als gedacht oder hattest du bei manchen Dingen ein bisschen mehr zu kämpfen? 

Was sich definitiv anders geoutet hat, als ich es vermutet habe, war, dass ich mit den ganzen Aussprachen und Stimmen gut jonglieren kann. Ich habe mich gefragt, ob ich die Figuren alle gut fassen kann oder ob ich ständig wegen irgendwelcher Aussprachen unterbrechen muss. Aber ich spüre, dass ich lustvoll jonglieren kann und es mich nicht rausreißt, sondern dass ich in dem Kosmos Platz nehme. Hin und wieder muss man etwas korrigieren und nochmal nachschauen, aber das ist okay. 

Es macht mir regelrecht Spaß, mich in den Figuren zuhause zu fühlen und von Kapitel zu Kapitel die Perspektive zu wechseln. Viele Figuren haben sehr detailliert beschriebene 

Lebensgeschichten. Gründe, warum. So grausam, hart und gar verkommen manche sind – sie zeigen auch Verletzlichkeit und Schwäche, Lord Tywin oder Sandor Clegane zum Beispiel, und das macht die Figuren spannend, ihre Kehrseiten, das, was durchschimmert. 

Die Charaktere entwickeln sich ja auch im Laufe der Bücher enorm weiter. Du hast im ersten Interview Tyrion angesprochen, den du so gerne magst, und Varys. Hast du mittlerweile einen Lieblingscharakter, oder ist es immer noch Tyrion? 

Tyrion hatte ich im ersten Interview genannt, weil er hervorsticht. Aber ich bin mittlerweile in die Zwischentöne reingewachsen und habe ein paar neue Lieblingsfiguren bekommen: Sir Davos Seaworth und Samwell Tarly. 

Außerdem mag ich die beiden Stark-Töchter Arya und Sansa. Diese Kraft, Zartheit und Traurigkeit von Sansa sind ganz stark. Ich mag auch Sandor Clegane in seiner abgefeimten Dirtiness, der sogar irgendwo ein Herz hat. Unter dem Dreck. Wenn ich die Bücher einlese, spiele, muss ich jede Figur mindestens ein bisschen lieben. Bei Joffrey fiel´s mir schwer. Es ist mir nicht gelungen, ihn zu lieben. Und das ist ok. 

Eine spannende Figur ist Jaime Lannister. Er wächst sehr mit der Zeit. Der irre König war ein Tyrann, Jaime hat ihn beseitigt, um Schlimmeres abzuwenden, denn alle hatten gelitten unter dem Tyrannen. Und doch verurteilen sie Jaime für seine Illoyalität. „Königsmörder“. Und die Geschwisterliebe zwischen Jaime und Cersei. Verwerflich. Hat nicht zu sein! Dennoch ist Jamies Gefühl kostbar und loyal. Er tut zunächst alles für diese Liebe. Bis er seine Hand verliert und in Folge auch die Liebe seiner Schwester. Jaime ist anfangs charakterlich mies, aber er entfaltet sich, macht eine Wandlung durch und nimmt seine Unzulänglichkeiten an. Und er wird dabei so verletzlich und so einsam. Gerade dieses zerrissene und trotzdem kraftvolle Wesen mit gestutzten Flügeln finde ich berührend. 

Du hast wahrscheinlich aktuell mehr Zeit im Studio verbracht als zu Hause bei deiner Familie. Wie ist es eigentlich, so viel Zeit mit deiner Lektorin, dem Regisseur und dem Toningenieur zu verbringen? Habt ihr da mittlerweile ein besonderes Band als Team? 

Wir sind ein wundervolles, sehr warmes Team. Und es ist gar nicht mehr Zeit als woanders, da wir effektiv vier bis fünf Stunden im Studio sind. Das ist bei mir auch um die Ecke. Ich lese immer längere Strecken und in den kürzeren Päuschen ist meistens sehr heiter und zugleich reflektiert. Wir unterhalten uns auch über private Dinge. Da kann man miteinander begeistert sein und miteinander lachen. Man spürt die ganze Zeit eine herzliche Zugewandtheit und ein ganz tolles professionelles Miteinander, was eine Leichtigkeit mit sich bringt, weil jeder genau weiß, was er macht und am besten kann. 

Gibt es denn bei dir jetzt noch eine Szene, auf die du dich besonders freust in den nächsten Aufnahmen? 

Das weiß ich nicht, weil ich die Bücher für die Hörbuchaufnahmen zum ersten Mal lese, bislang habe ich nur die Serie gesehen. Und die ist in Vielem ja anders. Ich freue mich auf alles. Die rote Hochzeit hatte ich gerade. Das war so ein Abschnitt, dem ich entgegengefiebert habe. Ich bin auch gespannt, wie Tywin Lannister auf dem Abort stirbt und wie Arya nach Braavos in den seltsamen Tempel kommt. Da viele Szenen in den Büchern mehr oder weniger anders als in der Serie sind, werde ich immer wieder überrascht. Ich bin gespannt, welches Schicksal George R.R. Martin für sie vorgesehen hat. 

Teil 3: Nach dem Abschluss der Studioaufnahmen 

Welches Gefühl überwiegt nach Abschluss der Aufnahmen: Erleichterung oder Melancholie, dass es vorbei ist? 

Es ist beides und es kommt sogar noch etwas Drittes hinzu: Als ich die letzten Zeilen gelesen habe – das letzte Wort war übrigens „Dolche“–, da dachte und fühlte ich: So ist es nun also. Dies ist nun das letzte Wort gewesen von diesem Wahnsinnszyklus. 7000 Seiten und 700 Stimmen, noch viel mehr Aussprachen und eine wunderbare Welt, die da miteinander bereist wurde. 

Also Melancholie, weil diese wunderbare Struktur von monatlichen Weiterreisen in einer wirklich wunderschönsten Begleitung nun vorbei ist. Melancholie, dass das jetzt vorüber ist, diese Schaffensphase. Erleichterung natürlich im besten Sinne, weil das ein enormes Glücksgefühl ist, so einen großen Geschichtenbogen mit Herausforderungen und Spaß bewältigt zu haben. 

Das ist ein Riesengeschenk gewesen. Jetzt darf die Saat aufgehen in der Resonanz, denn jetzt kommen die Menschen, die die Geschichte hören. 

Du warst dieses Jahr für die Aufnahmen von „Das Lieb von Eis und Feuer“ 100 Tage im Studio. Wie blickst du auf die Aufnahmen zurück? 

Ich bin von vorne bis hinten, Teil für Teil vorgegangen, Szene für Szene, Figur für Figur, Satz für Satz, Emotion für Emotion. Es sind drei Stunden effektives Material am Tag entstanden. Natürlich sitzt man länger daran und investiert viel Begeisterung und Kraft. Danach war ich auch immer reichlich ausgepustet. 

Bei “Das Lied von Eis und Feuer” gab es nicht ein einziges Kapitel, bei dem ich mir gedacht habe, das lese ich jetzt mal schnell zu Ende. Das war immer eine intensiv hingegebene Reise und ich fühlte mich immer sehr zu Hause darin. Es ist auch ein Buch, das ich mir durchaus auf die Nachttischkante gelegt und gelesen hätte. Dieses Projekt ist in meinem Hörbuchleben das Größte, das ich je gemacht habe. Es ist eine der größten und schönsten Wanderungen, die ich stimmlich machen durfte, gleich nach meinem „Ring des Nibelungen“ von Kaminski ON AIR. 

Du hast im Laufe der Aufnahme 700-800 Stimmproben und 1200 Aussprachen angelegt/gesammelt. Wie schwer war es, den Überblick zu behalten? Wie entscheidest du, wie du eine Stimme anlegst? 

Wenn das Buch gut ist, dann sind die Figuren physisch und psychologisch ausführlich beschrieben. Das ist meisterlich gemacht von George R. R. Martin. Ich kann mich da intuitiv hervorragend hineinfallen lassen und dann stimmlich spielen und begleiten, wie jemand sich in einer bestimmten Situation der Bedrängnis, der Lust, der Anstrengung, der Argumentation etc. bewegt. Wenn ich mich vorbereite, beginne ich mit unemotionalen Dingen wie den Betonungen, der Sinnfälligkeit, dem Bogen eines Verlaufs von Erzählung oder Dialog und vermerke das in meinem Manuskript. 

Wenn für mich eindeutig ist, wie ein bestimmter Typ klingen muss, dann notiere ich mir ein Icon oder eine kleine Bemerkung, die mir die Charakteristika der Figur zeigt, schon bevor der Satz beginnt. Dann habe ich das im Stillen in mir schon als Vorgefühl, spreche es aber im Studio zum ersten Mal laut aus. Ich übe die Figuren also nicht, sondern lasse mich ganz von der Klaviatur meiner Gefühle und dem Wissen zum Inhalt leiten. 

Diese Stimmprobe wird wie viele andere in einer Datei festgehalten. Beim nächsten Mal, bevor dieses semi-spontane Produkt meiner Stimmenfantasie für die Figur vorkommt, höre ich mir die Datei nochmal an. So kann ich diese Stimme zwei Bände später auch wieder zum Besten geben. 

Und es gibt Markenfiguren, die eine ganz klare Struktur haben, wie Tywin Lannister oder Tyrion. Die kann ich wie bei einer Orgel aus dem Register ziehen und sie leben dann einfach. Es ist ein virtuoser Akt, bei dem ich mit all diesen Sachen jongliere, und diese Wechsel machen mir unglaublich viel Spaß. Dazu kommen mir auch spontane Stimmen und Fantasien bei Figuren, die nie wieder auftauchen. Bei diesen kann ich mir dann noch kleine Feinheiten und etwas Exotisches einfallen lassen. 

Du hast nun alle 10 Bände fertig eingesprochen. Hast du eine Lieblingsszene? Und ein Lieblingszitat, das du besonders gerne gelesen hast? 

Was ich sehr liebe, sind die düsteren, kinderbuchartigen Kapitel, die sich um Bran oder Arya drehen, weil darin eine große Zartheit liegt. Diese Kinder erleben unzählbare krasse Demütigungen und lange, zehrende Reisen. Das sind ganz starke Charaktere, die früh erwachsen werden mussten, um zu überleben. 

Ihre Wege, beispielsweise Bran und der dreiäugige Rabe, das Mystische darin, gefallen mir sehr. Sein erster Flug als Rabe. Diese Szene ist magisch. Ich mag Arya, wie sie mit dem gütigen Mann in Braavos im Haus von Schwarz und Weiß ihre Lektionen lernt. Wie sie beim vielgesichtigen Gott lernt, niemand mehr zu sein. Alles aufgibt, alles abgibt und doch reich daraus hervorgeht. Reifer, stärker. Ernster. 

Ich mag die Mystik in den Szenen mit Melisandre, ich mag das Unterwegssein von Jon Snow mit Qhorin Halbhand im Eis. Ich mag die Ritterinnen-Saga der Brienne von Tarth. Das wäre ein Spinoff wert. Großartig. Also es gibt tatsächlich wahnsinnig viele gute Szenen und Handlungsstränge, garstige, abgründige, aber auch wohltuend komödiantische, beschenkend tiefgründige, berührende. 

Gibt es ein Zitat, von dem du dachtest: Das hätte ich gerne selbst erfunden? 

Ich habe tatsächlich reihenweise gedacht: Krass, das muss man sich merken. Einer der letzten Sprüche war von Victarion Greyjoy. Er hatte auf dem Weg zur Drachenkönigin Daenerys ein Schiff gekapert. Darauf gab es Frauen, die Victarion nicht wie üblich für sich selbst behält, sondern doppelt opfert, dem Gott R’hllor gleichermaßen wie seinem Ertrunkenen Gott. Im inneren Monolog sagt er, angesichts der fernen, mysteriösen Daenerys, die er erreichen will: „Ein Mann braucht keine Kerzen, wenn ihn die Sonne erwartet.“ Das kann man auf vieles beziehen als ein Plädoyer für die Vision, für das Ziel, für das es sich lohnt. Da gehe ich durch die Gischt. Da gehe ich durch den Wind. Diese Kraft, die in der Vision liegt. Das fand ich sehr schön. 

Ich mag diese immer wiederkehrenden Formeln. Dunkle Schwingen, dunkle Worte. Das finde ich wunderschön. Ich mag: The winter is coming. Das sind Worte, die eine archaische Kraft haben. Davon gibt es reichlich im Buch. 

Sie flößen häufig Respekt ein: vor der Erde, vor dem Leben, vor dem eigenen Wollen. Es gibt auch Schmerz und Wut darin. Wir sind derzeit alle großen Dingen ausgesetzt, denen gegenüber wir ohnmächtig scheinen. Der Winter kommt eben. Er kommt. Wir haben keine andere Chance, als uns gegenwärtig dort hineinzubegeben und einen Weg zu finden, auf den Füßen zu bleiben. 

Kannst du den zukünftigen Hörern noch ein kleines Grußwort einsprechen, das Lust machen soll auf das, kommt? 

Es gibt das Buch, es gibt die Serie, es gibt wahnsinnig viel Hintergrundmaterial über diese Welt in „Das Lied von Eis und Feuer“. Sie ist inspiriert von wahrer Menschheitsgeschichte, wie sie hinter uns liegt. Und ist gleichzeitig geprägt von unglaublich viel Fantasie und Vision. Darin der Mensch, wie er immer war. Ein Vieh. Eine Pest. Eine große Hoffnung. Das Buch ist nahbar, das Buch ist tief und das Buch ist reich an Landschaften, inneren und äußeren, und voller unzähliger vielgestaltiger Figuren. 

Ich bin sehr unvorbelastet in dieses Buch gegangen und bin dabei in einen Sog geraten, der mich nicht losgelassen hat. Diese Fülle, diese Vielfalt, diese Kraft, die das Ganze hat! 

Möge diese neue Lesart der Geschichte, Euch ebenfalls in diesen Bann ziehen. Valar Morghulis. 

Interview © Random House Audio

Stefan Kaminski: Bild © Anita Back

George R.R. Martin
Das Lied von Eis und Feuer

Verlag: Random House Audio
Veröffentlichung: 26.02.2025
ISBN: 978-3-8371-6836-5
Preis: 150,00 €
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