Donnerstag 15. Mai 2025

„Tanz ohne Text – Klang mit Konzept“ Ein Interview mit den Styronauten über ihre neue Single, das Album NORM und das Musizieren jenseits aller Schubladen

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Im Interview: HH: Heinz Hoppaus (keys) und RR: Roland Renner (bass) 

„Organic“ erscheint am 18. April – was war der Impuls für diesen Track? Warum gerade dieser Song als erste Auskopplung aus dem neuen Album?

HH: 2023 im Herbst stand ich am Balkon einer Berghütte in Slowenien. Unweit der steirischen Grenze. Irgendwann am Morgen. Mein Blick in den Wald gerichtet. Ein Ziel vor Augen: Kann ich eine harmonische Fortschreibung komponieren, die diesen wunderbaren Eindrücken der Natur entsprechen? Mit Synthesizer und Score Software waren die Akkorde schnell notiert. Die Ausgestaltung der verschiedenen Klänge war dann ein längerer Prozess im Studio. Wir waren auf der Suche nach neuen Sounds, abseits unserer „Norm“:  Kein Thema, mehr Klang als Melodie. Die wechselnde Stimmung von Bäumen im Wind oder der chaotisch anmutende Waldboden entwickelten sich so zu diesem, auch für die Styronauten neuen Klangkomplex. Insofern bildet dieser Track sehr gut ab, wie wir an neue Stücke herangehen: Eine Norm als Ausgangspunkt, die unendliche Spielräume eröffnet und atmosphärische Vielfalt ermöglicht.

Eure Musik ist komplett instrumental. Welche Herausforderungen und Freiheiten bringt es mit sich, Geschichten ohne Worte zu erzählen – gerade bei einem Thema wie „Norm“?

HH: Eine der schönsten Eigenschaften von Instrumentalmusik ist ihrer Offenheit. Die Geschichten, die wir in die Musik projizieren, um sie von dort aus wieder strahlen zu lassen, können bei den Zuhörenden völlig differente Kopfkinos erzeugen. So gesehen gibt es dabei gar keine „normierte“ Rezeption bzw. es werden Erwartungshaltungen überschrieben oder neue Zusammenhänge gebildet. Das ist schon durchaus etwas Transzendentes!
Die Herausforderung, die uns dabei immer wieder Kopfzerbrechen bereitet, und gleichzeitig zu den schönsten Aufgaben für uns als Musiker zählt, ist: Mit welchen Klängen gelingt es mir, diese Geschichte zu erzählen? Welchen Sound designe ich am Instrument? Das kann uns manchmal echt bis aufs Blut nerven!

NORM ist ein Doppelalbum mit zehn Tracks. Was macht dieses Format für euch reizvoll, und was hat euch dazu gebracht, diesen Rahmen zu wählen?

RR: Das Doppelalbum hat sich durch das Limit von Vinyl-Tonträgern ergeben, die nur 45min pro Platte zulassen, um nicht allzu viel Klangqualität oder Lautstärke zu verlieren. Wir hatten in den vergangenen neun Jahren (seit unserem Debutalbum DELTA) ja einiges angesammelt, wählten dann aus ca. 20 Kompositionen 14 aus und setzten bewusste Zäsuren. So haben wir aus den ursprünglichen zwei Stunden Material 88 Minuten destilliert. 

Der Albumtitel NORM klingt zunächst klar, fast starr – doch eure Musik ist das genaue Gegenteil. Wie passen musikalische Freiheit und gesellschaftliche Normen für euch zusammen?

HH: Normen sind oft das Resultat von vielen verschiedenen gesellschaftlichen Prozessen. Oft ist es schön und beruhigend sie zu haben. Sie geben Halt im Leben. Uns hat aber auch das Spiel bzw. der Bruch mit der Norm interessiert. Zu viel Norm schränkt ja auch ein, lässt uns nicht mehr Tanzen. Es entsteht Langeweile oder vielleicht sogar Orientierungslosigkeit. Und umgekehrt: Gibt es Freiheit ganz ohne Norm? Wo ist Freiheit zu finden, wenn sie keinen Bezug zu etwas Anderem, Festem hat? Kann ich sie dann überhaupt erkennen? Wer dechiffriert unsere musikalischen Gedanken, wenn ich nicht das eine oder andere Zugeständnis zu normierten Interaktionsformeln zulasse? 

Gibt es bestimmte Normen, die euch als Band besonders beschäftigen – musikalisch, gesellschaftlich oder auch im ganz persönlichen Bereich?

HH: In den letzten zehn Jahren pflegten wir manchmal einen, sagen wir: „rostigen“ Modus bei der Entwicklung unserer Musik. Die Form ergab sich aus Einzelteilen, die aufeinander folgten. Soweit, so langweilig. Die zentrale Frage bei NORM war also: Können wir das überwinden? Können wir Form verflüssigen? Wie wichtig ist Wiederholung? Das brachte uns ganz schön ins Schwitzen!
Wir sind zum Schluss gekommen, dass die Existenz von Normen uns erst richtig lebendig macht. Der Modus, wie wir mit unserer Umwelt umgehen, wird dadurch lebendig, wie wir diese unsere Normen beleuchten, besprechen, verformen, manchmal ignorieren und gleichzeitig auf sie verweisen.

Welche Rolle spielen Entfremdung, Andersartigkeit oder „Randerscheinungen“ in euren Kompositionen? Habt ihr konkrete Bilder oder Situationen im Kopf, wenn ihr euch solchen Themen widmet?

RR: Bei der Beschäftigung mit gesellschaftlichen Normen kommt man dann auch schnell zu ‚Abnormen‘ und den Fragen: Was ist ‚normal‘? Was ‚abnormal‘? Mitschwimmen oder dagegen anrennen? Affirmation oder Dissidenz? Alles ebenso alltägliche wie globale Themen, die uns auch musikalisch interessiert haben. Wie lassen sich (gesellschaftliche) Normen musikalisch abbilden? Welche (menschlichen) Randerscheinungen und Ausnahme-Existenzen interessieren uns? Was stört oder verhindert ein „harmonisches“ Zusammenleben/-spiel? Wohin führen uns Entfremdungen und Distanzen?

Anhand von „Hoarder“, einer zentralen Nummer von NORM, kann ich kurz unsere Arbeitsweise schildern: Dabei handelt es sich um eine 17-minütige Suite, die sich mit der Randerscheinung des „Messie-“ oder eben Horter-Syndroms beschäftigt. Vor etwa sieben Jahren sind wir durch einen Zeitungsartikel auf die tragische Geschichte der Collyer Brüder aufmerksam geworden, die sich durch das exzessive Sammeln von Tonnen von Müll quasi selbst begraben hatten und gestorben sind. Dieser Artikel inspirierte uns, eine Suite zu diesem Thema zu entwickeln: Wie klingt musikalisches Anhäufen? Wie hört sich exzessives Sammeln an? Und wie das Abschotten im Eigenen zu viel? 

Was erwartet Hörer:innen auf NORM, das sie von DELTA vielleicht nicht kennen? Wo bleibt ihr euch treu, wo brecht ihr aus?

RR: Quantitativ erwartet einen doppelt so viel! Nein, Spaß beiseite. Ich glaube, dass wir auf DELTA noch nicht unsere gesamte (musikalische und stilistische) Breite auszuspielen und zu zeigen vermochten. Das erste Album hat natürlich immer eine gewisse Rohheit und auch Naivität, was eine eigene Qualität mit sich bringt. Das ist bei vielen Erstlingswerken so. Live haben wir uns eigentlich schon lang von DELTA verabschiedet, obwohl wir (fast) alle Songs nach wie vor mögen. Erst kürzlich haben wir uns wieder mit zwei Nummern näher beschäftigt, weil wir sie bei unserem Release-Konzert im Grazer Orpheum spielen möchten. 

NORM ist eine längere Reise mit unterschiedlichen Abenteuern. Minimalismus trifft auf wahnwitzigste Soli. Ruhige sphärische Welten treffen auf brachialen Irrsinn. NORM hat so viele Sound-Facetten – wenn wir die alle ausspielen wollen, reisen wir (zusätzlich) mit Afro-Drums, Harmonium, Theremin und Kontrabass zu den Konzerten. 

Eure Musik wirkt oft wie ein Gespräch ohne Worte – wie entsteht bei euch Zusammenspiel, ohne dass jemand vorschreibt, wo es langgeht?

HH: Bei uns ist schon auch einiges vorgegeben. Das harmonische Konzept ist oft zuerst da. Davor oder danach die Geschichte, das Bild, das Gefühl. Daraus ergibt sich, ob wir kommunizieren, streiten, uns lieben. Oder ob wir mehrere Perspektiven zum selben Zeitpunkt haben wollen, Dichte. Dann spielen wir mehr Polyphonie und Kontrapunktik. Wie etwa bei der Nummer „Autodrom“, wo wir wohl alle zugleich aus dem (musikalischen) Fahrzeug gestoßen werden sollten. Sehr freie Tracks (das bedeutet meist, das ihnen wenig komponiertes Material zugrunde liegt) wie „Organic“, „Polynaut #1“ oder „Hoarder“ erfordern prinzipiell ergeben dann mehr Interaktion: Freiheit führt zum Miteinander.

Wenn ihr aus dem Album einen Soundtrack für eine utopische oder dystopische Welt auswählen müsstet – welcher Track wäre es, und warum?

HH: Utopie und Dystopie liegen manchmal nahe beieinander. Der Track „Distancing“ ist aus dem oft isolierten Alltag zur Zeit der Corona-Pandemie entstanden. Jeder von uns sollte für sich versuchen, musikalisch eine isolierte Eigenständigkeit zu kreieren. Das Gefühl von Isolation und Einsamkeit sollte hörbar werden. Nun ist uns das nicht ganz gelungen. Ein Urbedürfnis nach Kommunikation und Interaktion hat sich immer wieder eingemischt.

Und ganz ehrlich: Wann hattet ihr zuletzt den Impuls, doch mal Gesang aufzunehmen – und was ist dann passiert?

RR: Live hatten wir schon einige Projekte, bei denen Gesang oder Gesprochenes eine Rolle gespielt hat. Bei dem Format „WORDIGO“ haben wir vier Mal je 30 Minuten mit unterschiedlichen ‚Frontmenschen‘ (Poetry Slammer:innen, Schauspieler:innen, Sänger:innen) performt. 

Und auf NORM gibt es einen Track namens „Lametta“ mit einem Text, der von mir stammt. Den haben wir mit einer legendären 79-jährigen Grazer Schriftstellerin und Performerin aufgenommen, die damit auch Neuland betreten und einen fantastischen Beitrag zum Album geleistet hat. 

Vielen Dank für eure Zeit, eure Offenheit und den Sound, der sich nicht fassen lässt. Wir freuen uns auf „Organic“ – und sind gespannt, wie ihr NORM ab dem 6. Juni auf die Welt loslasst. CK

Bild © Alexander Seidler

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