Im besten Fall kann Prog ein sicherer Hafen vor dem Sturm da draußen sein, ein heilsamer Ruhepol, purer Eskapismus. Echte Musikalität, pure Emotionen und eine Vorliebe für überragende Melodien machen diese Musik zu einer Reise, einer Erfahrung, für die Platten und Kopfhörer überhaupt erst erfunden wurden. Ein ganz besonderer Progspezialist ist Richard West, seit über 30 Jahren renommierter Keyboardzauberer und Songwriter der britischen Prog-Metal-Pioniere THRESHOLD. Sechs Jahre nach deren epischem Meisterwerk »Legends Of The Shires« kehrt West an diese Gestade zurück, um uns die langerwartete Fortsetzung zu erzählen. Nicht unter dem Namen THRESHOLD, wohlgemerkt. Sondern mit einer brandneuen Supergroup. Progfans weit und breit, jauchzet und jubilieret: OBLIVION PROTOCOL sind da. Und sie bringen uns »The Fall Of The Shires«.
„Als meine Bandkollegen von THRESHOLD beschlossen, keine Fortsetzung der »Legends Of The Shires«-Geschichte aufzunehmen, wusste ich, dass ich noch ein wenig länger in dieser Welt bleiben wollte“, erklärt Richard West. „Also schrieb ich meine eigene Fortsetzung mit dem Titel »The Fall Of The Shires«. Zuerst habe ich es nur für mich selbst geschrieben, aber als es fertig war, habe ich irgendwann darüber nachgedacht es auch zu veröffentlichen.“ Dafür können wir sehr dankbar sein: OBLIVION PROTOCOL werden sofort einen Platz in den Herzen aller Progkenner beanspruchen und liefern einen dichten, kulminierenden Sound irgendwo zwischen RUSH, STEVEN WILSON, PINK FLOYD zu Zeiten von »The Dark Side Of The Moon« und den okkulten Hardrock-Meistern GHOST. „Meine Stimme ist tiefer und weniger schwer als Glynns, also wusste ich, dass die Musik den Gesang auf eine andere Weise unterstützen musste“, sagt Richard über seinen THRESHOLD-Bandkollegen. „Ich entschied mich für tiefergestimmte Gitarren und Bässe und verließ mich mehr auf atmosphärische Keyboards und orchestrale Elemente, um den Sound zu definieren. Aber natürlich ist es eine Fortsetzung von »Legends Of The Shires«, also gibt es natürlich immer noch eine enge Verbindung zum Sound dieses Albums.“
Fans des ersten Teils werden mit Freude nach „Easter Eggs“, cleveren kleinen Anspielungen, Verbeugungen und Referenzen an den ersten Teil suchen, während sie gleichzeitig diese imposanten Klangkathedralen bestaunen, die OBLIVION PROTOCOL mit ihren fesselnden, atmosphärischen, epischen Geschichten errichten. Gesang und Keyboards kommen von Richard, Wirklichkeit wird der cineastische Sound dank einer Gemeinschaft renommierter Musiker: Gitarrist Ruud Jolie (WITHIN TEMPTATION), Bassist Simon Andersson (DARKWATER) und Schlagzeuger Darby Todd (DEVIN TOWNSEND). „Es war wirklich einfach. Ich habe drei gute Freunde ausgewählt, die ich seit Jahren kenne und deren Stil ich sehr bewundere. Zum Glück haben sie alle zugesagt“, grinst Richard.“ Um die Sache abzurunden, hat auch THRESHOLDs Karl Groom einige wirklich mitreißende Gitarrensoli beigesteuert. Ehrensache.
Alle an Bord freuen sich jetzt darauf, die Saga fortzusetzen und in diese Gefilde zurückzukehren – auch wenn die Ereignisse seit unserem letzten Besuch eine deutlich dunklere Wendung genommen haben: Während »Legends Of The Shires«die Geschichte einer Nation erzählte, die versucht sich selbst zu finden, webt Richard nun die Zukunft des Hauptprotagonisten in die Welt. „Am Ende von »Legends« erwägt der Protagonist eine Reihe möglicher Zukünfte. Die Fortsetzung erzählt die Geschichte, wie er König wird und welche Folgen diese Entscheidung hat. Gleich im Opener beschließt er, dass die einzige Möglichkeit, die Bevölkerung zu kontrollieren, darin besteht, sie zu unterdrücken. Das macht dieses Land zu einem viel dunkleren Ort.“
Mit Anspielungen auf reale Ereignisse erinnert »The Fall Of The Shires« an legendäre Prog-Konzeptalben vergangener Tage: »The Wall«, »Misplaced Childhood«, »Operation: Mindcrime«, im Kern alles dystopische Werke. „Progressive Rock war schon immer ein gutes Genre für Konzeptalben“, nickt Richard. „Sobald man von der Drei-Minuten-Popsong-Struktur wegkommt und anfängt längere Songs zu schreiben, hat man mehr Freiheit, verschiedene Ideen und größere Themen zu erforschen. Wenn man dann noch die unbändige Kraft und die dunklere Klangwelt des Metal hinzufügt, schafft man die perfekte Kulisse, um düstere Geschichten zu erzählen.“ Unnötig zu erwähnen, dass einer wie er von dieser Kunstform geradezu besessen ist. „Ich liebe Konzeptalben seit ich jung war“, sagt Richard strahlend. „Ich erinnere mich, dass ich eines machen wollte, als ich in der Schule in einer Band war. »Legends« war für mich sehr erfüllend und ich war sofort von der Idee angezogen, ein weiteres zu machen.“
Mit Tiefe, Breite und einem Händchen für ungewöhnliche Geschichten werden wir sofort wieder in eine Welt hineingezogen, die wir eigentlich gar nicht verlassen wollten. OBLIVION PROTOCOL sind etwas wie das fehlende Bindeglied zwischen der Eleganz (und manchmal dem Größenwahn) des Prog der Siebziger und der zeitgeistigen Sensibilität des Pop. Es ist alles da: Die epischen Songs, der orchestrale Glanz, das Können, aber eben gepaart mit eingängigem Songwriting und Songs, die man sich auch in großen Arenen vorstellen kann. Das alles bedeutet aber natürlich nicht, dass Richard mit seiner Rolle bei THRESHOLD unzufrieden ist. Ganz im Gegenteil: „Ich liebe es mit THRESHOLD zu arbeiten, das sind wunderbare Leute. Ich mache das jetzt schon seit 30 Jahren und es liegt mir im Blut. Aber manchmal ist es einfacher, eine bestimmte Vision auf eigene Faust zu verwirklichen, wenn man eine starke Idee und die Leidenschaft besitzt sie durchzusetzen.“
Geschrieben und produziert von Richard in seinem Studio in Großbritannien, war diese Platte sein Spielplatz, sein Nimmerland, sein Mittelerde. „Es gab keine äußeren Einflüsse oder Kompromisse“, sagt er. „Und weil ich dachte, niemand würde es jemals zu hören bekommen, war mir egal, was andere dachten. Ich machte einfach etwas, das ich liebe.“ Dass das Ergebnis ein Album sein würde, stand nie in Frage: „Ich liebe das Albumformat, und das hat sich nie geändert“, bemerkt er. „Singles sind wunderbar, aber Alben nehmen dich auf eine Reise mit, sie lassen dich für eine Weile in eine andere Welt eintauchen. Sie sind eine der schönsten Ausdrucksformen der Kunst und die Welt wäre ohne sie um einiges ärmer.“ Dem ist wirklich nichts mehr hinzuzufügen.