Samstag 27. April 2024

Interview mit Dr. Reid Wilson, international anerkannter Experte für die Behandlung von Angststörungen, und Psychotherapeutin Lynn Lyons, LICSW Ängste bei Kindern und Jugendlichen: „Es herrscht eine Art Katastrophenstimmung …“

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 „Die Isolation in der Corona-Pandemie – die den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit genommen hat, in die Welt hinauszugehen, Erfahrungen zu sammeln und sich untereinander auszutauschen – hat die Zahl derjenigen, die unter Angststörungen leiden, massiv erhöht. Gleichzeitig herrscht bei den Erwachsenen, die diese Entwicklung besorgt beobachten, eine Art Katastrophenstimmung, wodurch eine Negativspirale in Gang gesetzt wird. Mit unserer Methode bringen wir den Kindern bei, wie sie ihre Ängste angehen können, statt ihnen bloß auszuweichen. Gleichzeitig beziehen wir aktiv die Eltern mit ein, damit diese nicht unwillentlich durch ihr Verhalten und ihre Beschwichtigungsversuche die Ängste ihrer Kinder verstärken. Oftmals müssen wir ihnen raten, 85 Prozent weniger zu reden …“ 

Die beiden Angst-Experten Dr. Reid Wilson und Lynn Lyons, Autoren des Buchs „Mein ängstliches Kind“, haben einen unkonventionellen, aber sehr erfolgreichen Ansatz mit sieben „Puzzleteilen“ entwickelt, der Kindern, Jugendlichen und ihren Familien hilft, den Sorgenkreislauf zu durchbrechen und belastende Überängstlichkeit zu überwinden. 

Ängste von Kindern und Jugendlichen sind nicht erst seit Corona ein Thema, doch haben sich jene seitdem geradezu epidemisch verbreitet. Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen für diese Entwicklung?

Lynn Lyons: Covid hat unser Leben in vielerlei Hinsicht durcheinandergebracht, und am stärksten hat sich wahrscheinlich die Isolation auf die Jugendlichen ausgewirkt. Wir gehen mit Ängsten um, indem wir in die Welt hinausgehen, Erfahrungen sammeln, sie uns gegenseitig erzählen. Aber ohne diese Möglichkeiten – in Verbindung mit der Unsicherheit und der allgemeinen Beunruhigung vieler
Menschen – wuchsen die Ängste in der Isolation. Ich höre und erlebe auch eine Art
Katastrophenstimmung, wenn es um das Funktionieren junger Menschen geht. Erwachsene sind äußerst besorgt um die psychische Gesundheit ihrer Kinder und bringen diese Besorgnis sehr eindringlich zum Ausdruck. „Den Kindern geht es nicht gut“ ist eine Botschaft, die eine Spirale in Gang setzen kann, und ich sehe, wie das geschieht.

Alle Kinder sind ängstlich, und alle Eltern sorgen sich um ihre Kinder. Woran kann man feststellen, dass Ängste und Sorgen ein Ausmaß angenommen haben, das die ganze Familie belastet?

Dr. Reid Wilson: Am häufigsten wenden sich Eltern an uns, wenn ihr ängstliches Kind sie nachts wachhält oder sich weigert, zur Schule zu gehen. Aber die Belastung für die Familie beginnt schon früher. Die Eltern sind mit den Anforderungen des ängstlichen Kindes überfordert. Sie verbringen viel Zeit damit, ihrem Kind durch ständiges Beschwichtigen die Sorgen zu nehmen. Und wenn das nicht ausreicht, beginnen sie, Familienaktivitäten abzusagen, da dies die einzige Möglichkeit ist,
ihr Kind zu beruhigen.

Sie beide vereinen über 50 Jahre Erfahrung mit der erfolgreichen Behandlung von Angststörungen. Was hat Sie zu Ihrer besonderen Methode geführt, und wie unterscheidet sich Ihr Ansatz von anderen Therapiekonzepten?

Dr. Reid Wilson: Zu viele Kinder erhalten keine Behandlung für ihre Ängste. Wenn sie professionelle Hilfe erhalten, geschieht dies in der Regel hinter verschlossenen Türen und ohne Einbeziehung der Eltern. Wenn die Eltern jedoch aktiv in die Behandlung einbezogen werden, tritt die Veränderung schneller ein und kann dauerhafter sein. Ein großer Teil unserer Arbeit besteht darin, dem Kind beizubringen, wie es seine Ängste angehen kann, statt ihnen bloß auszuweichen. Gleichzeitig bringen wir den Eltern die häufigsten Fehler bei, die es zu vermeiden gilt, wie z. B. das Kind ständig zu „retten“ und in völlige Sicherheit zu betten. Ängstlichkeit kann für Familien überwältigend sein. Wir glauben jedoch, dass sie nicht komplex ist. Die Familien können einfache Strategien erlernen, die ihnen ihr Leben zurückgeben werden.

Viele Eltern begehen den Fehler, dass sie beim Versuch zu helfen die Ängste ihrer Kinder sogar noch verstärken. Wie kommt es dazu, und was wäre der bessere Weg, damit umzugehen?

Lynn Lyons: Die größten Fallen, in die Eltern tappen, sind erstens das Vermeiden und Ausräumen jeglicher Unsicherheit als Mittel zur Beseitigung der Ängste des Kindes und zweitens das Vorleben ihrer eigenen Ängste durch Überbehütung, Überwachung oder Vermittlung von Gefahren an ihre Kinder. Familien profitieren von einer Sprache, die Unsicherheit und Unbehagen zulässt, etwa: „Ich weiß, dass sich das unangenehm anfühlt, und natürlich machst du dir Sorgen, weil wir nicht genau
wissen, was passieren wird. Aber diese Gefühle sind normal, wenn wir uns auf neue Situationen einlassen.“

In Ihrem Buch raten Sie den Eltern, sich wie eine Art „Coach“ zu verstehen, der die Kinder dazu bringt, selbst aktiv zu werden. Welche Fähigkeiten sollten die Eltern bei sich fördern, um dieses Ziel zu erreichen?

Lynn Lyons: In erster Linie ihre eigene Fähigkeit, mit Ungewissheit umzugehen und Probleme zu lösen, anstatt sie zu vermeiden und zurückzuweichen. Eltern, die ihren Kindern Vermeidungsverhalten und Dysregulation vorleben, verstärken eher die eigene Angst des Kindes. Als Coach ist Konsequenz der Schlüssel, was bedeutet, dass Üben und Tun Teil des Plans sind; Kinder sollten sehen, dass ihre Eltern dies tun. Außerdem neigen Eltern im Allgemeinen dazu, zu viel zu reden, wenn sie coachen. Deshalb rate ich den Eltern: 85 Prozent weniger reden.

Mit „Casey’s Guide“ ergänzen Sie den Ratgeber um einen Zusatz, der als Download angeboten wird und sich direkt an Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 15 Jahren wendet. Was ist das Besondere an Casey, und welche Erfahrungen haben Sie mit ihrer Geschichte bei der Anwendung gemacht?

Dr. Reid Wilson: Unsere Protagonistin Casey erzählt von ihren üblen Begegnungen mit Ängsten und den vielen Wegen, die sie in ihrer Kindheit gelernt hat, um sich von Aktivitäten zurückzuziehen. Schließlich fand sie (mit Hilfe ihrer Mutter) die beste Taktik heraus, um sich ihren Ängsten zu stellen. Mit diesem Ratgeber dient sie den jungen Lesern und Leserinnen als Vorbild, indem sie zum Beispiel zeigt, wie Ängste stärker werden, wenn man sie vermeidet, und schwächer werden, wenn man sich ihnen stellt. Kinder und Jugendliche können den Nutzen dieser Fähigkeiten direkt
aus Caseys Geschichte ziehen, anstatt nur von ihren Eltern oder ihrem Berater unterwiesen zu werden.

Dr. Reid Wilson
Mein ängstliches Kind

Verlag: Mankau
Veröffentlichung: 10.2023
ISBN:  978-3-86374-697-1 
Preis: 22,00 €
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Dr. Reid Wilson ist Direktor des Anxiety Disorder Treatment Center und international anerkannter Experte für die Behandlung von Angststörungen. Er arbeitet u. a. für die WebMD‘s Anxiety and Panic Community und hat das erste nationale Programm von American Airlines für Menschen mit Flugangst entwickelt und geleitet. Auf seine kostenlose Selbsthilfe-Website anxieties.com greifen jährlich 500.000 Besucher zu. Große Bekanntheit erlangte er durch Fernsehauftritte in The Oprah Winfrey Show, The Katie Show, Good Morning America und bei CNN. Dr. Wilson wurde 2014 mit der höchsten Auszeichnung, die von der Anxiety and Depression Association of America verliehen wird, geehrt und mit dem Service Award 2019 der internationalen OCD Foundation ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in neun Sprachen übersetzt.

Lynn Lyons, LICSW, arbeitet seit rund 30 Jahren als Psychotherapeutin und hat sich auf die Behandlung von ängstlichen Kindern und deren Eltern spezialisiert, wobei ihr besonderes Interesse der Unterbrechung der generationenübergreifenden Angstmuster in Familien gilt. Neben ihrer Privatpraxis in Concord, New Hampshire, hält Lynn international Vorträge für Berufsverbände und Schulbezirke und bietet Workshops für psychosoziale und medizinische Dienstleister, Lehrer, Schulkrankenschwestern und Eltern an. Sie ist dafür bekannt, sich auf die humorvolle Vermittlung konkret anwendbarer Fähigkeiten zur Bewältigung von allgemeinen Angstzuständen, Phobien, sozialen Ängsten, Zwangsstörungen und Leistungsängsten zu konzentrieren.

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